Münsteraner Memorandum Wissenschaftsorientierte Medizin

EIN STATEMENT DER INTERDISZIPLINÄREN EXPERTENGRUPPE „MÜNSTERANER KREIS“ ZUR WISSENSCHAFTSORIENTIERTEN MEDIZIN IM SPIEGEL DER COVID-19-PANDEMIE

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Zu diesem Memorandum ist auch ein Beitrag in der FAZ erschienen.

Hauptautor:innen: Bettina Schöne-Seifert · Norbert Schmacke
Autor:innen: Eva-Maria Jung · Holger Lyre · Claudia Nowack · Oliver R. Scholz
Unterstützende: Manfred Anlauf · Norbert Aust · Hans-Werner Bertelsen · Edzard Ernst · Paul Hoyningen-Huene · Peter Hucklenbroich · Ulrich Krohs · Benedikt Matenaer · Markus Seidel · Christian Weymayr  

März 2022

Der Münsteraner Kreis ist ein informeller Zusammenschluss von Expertinnen und Experten, die sich kritisch mit der komplementären und alternativen Medizin (KAM) auseinandersetzen. Er besteht seit Juni 2016 und geht auf eine Initiative von Dr. Bettina Schöne-Seifert, Professorin und Lehrstuhlinhaberin für Medizinethik an der Universität Münster, zurück. 
Mehr unter https://muensteraner-kreis.de

EINFÜHRUNG

Die moderne akademische Medizin soll die Erfolgsaussichten ihrer Behandlungsmaßnahmen nach dem jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand erklären und empi­risch belegen können ­– so auch ihr eigener Anspruch. Weil sie diesem Ideal aber immer nur näherungsweise genügen kann, ist für sie das ver­gleichs­weise bescheidene Etikett der wissenschaftsorientierten Medizin (WOM) ange­messen. Die­ses Memorandum soll dazu dienen, die Ziele und Grundbegriffe der WOM im Spiegel der Covid-19-Pandemie darzulegen.

Seit ihren zaghaften Anfängen vor etwa 200 Jahren hat diese Medizin sich immer auch unterschied­lichen Anfeindungen ausgesetzt gesehen. Als scholastisch verkrustete ‚Schulmedizin‘, als Ausverkauf der ärztlichen Kunst, als seelenlose Biomedizin oder als Ticket für die Überformung der Patienten­versorgung durch den ‚medizinisch-industriellen Komplex‘ – allen voran durch die Pharma­industrie. Solchen Vorwürfen argumentativ entgegenzutreten, ist schon per se eine immer wiederkehrende Aufgabe der Selbstvergewisserung im Dienst von Ärzt:innen, Patient:innen, Gesundheitspolitik und interessierter Öffentlichkeit. Im Zentrum steht dabei das Bestreben, unberechtigte von berechtigter Kritik zu unterscheiden und für Missstände dann Ursachen und Vermeidungsstrategien auszumachen.

In der gegenwärtigen Corona-Krise hat diese Aufgabe eine neue Dimension der Dringlichkeit erhalten. Corona-Leugnung, Impfgegnerschaft und Wissenschaftsskepsis – so heterogen ihre Ausprägungen und Motive auch sind – gehen oft mit radikaler WOM-Kritik einher. Aus diesem Grunde ist eine aktuelle Standortbestimmung von WOM gerade im Lichte der COVID-19-Pandemie von großer Wich­tig­­keit. Die vorliegenden Erläuterungen von Zielen, Grundbegriffen und abgrenzenden Anfor­de­rungen der WOM sollen den folgenden Klarstellungen dienen: 

  • Moderne Medizin in aufgeklärten demokratischen Gesellschaften kann vernünftigerweise nicht anders als wissenschaftsorientiert, also eine WOM sein. Wissenslücken, Unsicherheiten und praktische Umsetzungsprobleme, die in der WOM eben­­so bestehen wie in anderen wissenschafts­geleiteten Handlungsgebieten, dürfen nicht in Vergessen­heit geraten lassen, wie eminent groß und systematisch die WOM-Fortschritte in Sachen Patienten­dienlich­keit sind. Das gilt auch in der aktuellen Pandemiebekämpfung und bezieht Public-Health-Maßnahmen mit ein.
  • Vielstimmigkeit und Selbstkritik sind innerhalb der Wissenschaft und bei der wissen­schaftlichen Politikberatung ein globaler Fortschrittsmotor. Zugleich tragen Wissenschaft­ler:innen besonders in der Öffentlichkeit und in Krisensituationen große Verantwortung: So sollten sie persönliche Abwei­chungen vom jeweiligen Experten­­­konsens als solche deklarie­ren. Und sie sollten keinen Zweifel daran lassen, dass aus wissenschaftlichen Fakten und Prognosen etc. nur dann Empfehlungen oder Forderungen werden, wenn zusätzliche Bewertungs­maß­stäbe aus gesell­schaft­lichen Diskursen hinzukommen, die selbst nicht Teil der wissen­schaft­lichen Expertise sind.
  • Vorläufigkeit und interne Strittigkeit vieler medizinischer Theorien und Praktiken sind keine Recht­fertigung für Pseudomedizin oder Wissenschaftsskepsis. Maßstab für gute Medizin kann am Ende nur die für WOM maßgebliche Kombination von Kausalverständnis und Wirksamkeits­belegen sein. Zudem ist wissenschafts­orientierte Medizin ihrer Idee nach nicht kulturab­hängig oder in ihrer Gültigkeit auf bestimmte Regionen oder Ethnien beschränkt, sondern beruht weltweit auf denselben Prinzipien.
  • Die unbestreitbaren Schwächen der praktizierten wie der publizierten Medizin resultieren nicht aus ihrer Wissen­schaftsorientierung als solcher, sondern aus Rahmenbedin­gungen, Unsicher­heiten und Wissenslücken, denen es abzuhelfen gilt. Das gilt offensichtlich auch im Corona-Kontext. 

1. MEDIZIN: PRIMAT DER PATIENTENDIENLICHKEIT

Das oberste Anliegen der Medizin ist die Bekämpfung und Linderung von Krankheiten. Zwar gibt es über das exakte begriffliche Verständnis von Krankheit und Gesundheit anhaltende Debatten. Doch die meisten Zu­stände, die mit beeinträchtigenden körperlichen oder geistigen Funktionseinbußen, Schmerzen oder einer verkürzten Lebensspanne einhergehen, fallen aus jeder theo­re­tischen Perspektive unter den Begriff der Krankheit. 

Der Medizin geht es am Ende immer darum, individuellen Patient:innen durch heilende, lindernde, rehabilitative oder palliative Maßnahmen zu helfen sowie Krank­heiten durch Prävention vorzubeugen. Welche Maßnahmen hierbei als gute Patientenversorgung gel­ten, ist abhängig vom Stand der medizinischen Wissensbestände. Aber zeitübergreifend ist von Medizin zu fordern, dass sie möglichst patienten­dienlich ist und daher am ‚Krankenbett‘ das jeweils beste Wissen nutzt und einen menschlich-zugewandten Umgang pflegt. 

Diesen Zielen soll die Medizin von alters her dienen – auch wenn sie dafür in früheren Zeiten zumeist wenige wirksame Mittel bereithielt. Das ist heutzutage entschieden anders, auch wenn es noch immer viele unverstandene oder schlecht behandelbare Krankheiten gibt. Trotzdem hat sich die Erfolgsquote klinischer Behandlungen etwa seit den 1950er Jahren drastisch erhöht. Maßgeblich hierfür waren der naturwissenschaftlich basierte Wissenszuwachs, neue Technologien und die Nut­zung statis­tischer Verfahren für die Wirksamkeitsprüfung klinischer Maßnahmen. 

Neben individuellen Patient:innen hat die Medizin auch für Public Health zu sorgen – mit Maßnah­men, die auf das Wohlergehen, auf die Versorgung oder auf Verhaltensänderungen ganzer Bevölkerungs­gruppen oder der Bevöl­kerung insgesamt abzielen. Dabei steht Public Health in politisch egalitären Gesell­schaften in der Regel nicht im Kontrast zu einer Individual-Perspektive. Zumeist nützen Public-Health-Maßnah­men jedenfalls statistisch auch den einzelnen Mitgliedern des Kollektivs, statt sie zu dessen Gunsten zu benachteiligen. Der Gemeinschaftsschutz durch kollektives Impfen ist hierfür ein einschlägiges Beispiel – im Falle von COVID-19 auch ohne eine Herdenimmunität erreichen zu können. Wenn dies in Einzelfällen anders ist, kommen ethische und rechtliche Abwägungen ins Spiel, die politisch ausgehandelt werden müssen.

2. WISSENSCHAFTLICHKEIT DER MEDIZIN

Die moderne Medizin verdankt ihre Möglichkeiten hauptsächlich neueren naturwissenschaftlichen Einsichten in Krankheitsentstehung, ‑entwicklung und ‑bekämpfung.        
Die Pande­miebewältigung ist hierfür geradezu exemplarisch: Aufbauend auf der modernen molekular­biologischen und –genetischen Virologie konnten in kürzester Zeit die Natur des Virus und seine Variantenneigung erklärt werden. Klärung des Übertragungsmodus und epidemiologische Daten zu Verbreitungswegen führten ebenfalls rasch zur Entwicklung einer Public-Health-Strategie. Anfängliche Unsicherheiten über den Nutzen von Masken und fortwährendes Aushandeln von gesellschaftlich akzeptablen Abstandsgeboten und Kontakt­reduzierungen waren unumgänglich und angemessen, da belastbare Forschungsresultate zum „besten“ Weg in der Anfangsphase nicht vorlagen.            
Mit bisher beispielloser Geschwindigkeit wurden zudem auf der Basis langjähriger onkologisch-virologischer Forschung neue mRNA-Impfstoffe entwickelt. Zusätzliche traditionelle Impfstoffe stehen kurz vor der Zulassung. Damit steht allen Ländern, die hierzu ökonomisch in der Lage sind oder denen entsprechend geholfen wird, ein wirkungsvolles Präventionsmittel zur Verfügung, das die Dyna­mik der Pandemie grundlegend positiv beeinflusst hat.

Dies führt exemplarisch vor Augen, dass die Wissenschaftlichkeit der Medizin sich primär an ihrer Verankerung in der Forschung festmacht. Welche Rolle kommt dabei den praktizierenden Ärzt:innen in der direkten Krankenversorgung zu? Sie befördern den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt auf indirekte Weise: durch Ideen oder Fragestellungen, Mitwirkung an klinischen Studien oder Qualitäts­sicherung. Es ist anhaltend kontrovers, ob dies schon genuine Wissenschaft oder eher eine Anwendung von Wissenschaft ist. Richtig aber scheint, gute ärztliche Patientenversorgung auf drei Säulen ruhen zu lassen

(1.) auf der Nutzbarmachung geeigneter Wissensbestände aus allen relevanten Disziplinen;      
(2.) auf organisatorischem, technischem und implizitem Erfah­­rungs­wissen;       
(3.) auf Kompetenzen in der Kommunikation mit Patienten. 

Im hier behandelten Zusammenhang geht es nur um die erste Säule. Sie verpflichtet WOM-Ärzt:innen, ihre  Behandlungsempfehlungen an aktuellen wissenschaftlichen Einsichten aus­zurichten und sich ent­sprechend lebenslang weiterzubilden.

Wie in allen anderen Bereichen sind auch in der Medizin sämtliche Wissensansprüche ‚fallibel‘: d.h. sie sind nicht endgültig und müssen im Licht neuer Erkenntnisse ggf. revidiert werden. Das bedeutet aber nicht, dass alle Wissensansprüche gleichermaßen relativiert werden müssten, so dass der eine Wissensanspruch so gut wie der andere wäre. Ganz offensichtlich vertrauen wir (notorisch falliblem) Wissen in allen wichtigen Bereichen, z.B. beim Bauen und Nutzen von Flugzeugen, Gebäuden oder Brücken. Natürlich geschehen auch hier Fehler, aber das Beste, was wir veranlassen können, sind der Bau und Betrieb auf der Grundlage solider Geltungsstandards. Für praktische Belange der geschil­derten Art muss wissenschaftlich entschieden werden, welchen Befunden, Erklärungen und Vorher­sagen man in der jeweiligen Situation vertrauen kann und sollte. 

In der Medizin benötigt man Wissen darüber, mit welchen Mitteln sich Krankheiten am besten bekämpfen lassen. Die Erarbeitung solchen Wissens erfolgt mittels zweier unterschiedlicher Strate­gien, die in der WOM nach Möglichkeit zusammengeführt werden. Zum einen gibt es theorie- und experimen­tbasierte Argumente für Postulate und Erklärungen bestimmter Wirk­me­cha­nismen. Zum anderen sollen empirisch-klinische Anwendungsdaten, auch „Evidenz“ genannt (abgeleitet vom eng­lischen Wort evidence im Sinne von ‚Belegen‘), einen Zusammenhang zwischen der in Rede ste­henden Maß­nahme und der Verbesserung des gesundheitlichen Patientenwohls systematisch belegen.       

Die Bedeutung der ersten Erkenntnisstrategie kann noch einmal an der schon erwähnten Entwicklung der mRNA-Impfstoffe in der Corona-Pandemie veranschaulicht werden. Sie fußte auf interdisziplinär vernetztem Wissen über Virusbiologie, Ansteckungsmechanismen, Impfstoffentwicklung, Proteinbio­synthese und menschliche Immunantworten und erklärt, dass die mRNA-Technik so rasch ange­wendet werden konnte und dass sie – mehr noch – nach Experten­konsens ein außerordentlich vielver­sprechendes Behandlungskonzept der näheren Zukunft sein wird: sei es als Impfstoff gegen zahlreiche andere Infektionen, sei es zur Immunabwehr gegen Tumorzellen. Die solchen (realen oder erhofften) Fortschritten zugrunde liegenden Kenntnisse sind systematischer Natur und genau deshalb belastbar.

Demgegenüber sind postulierte Wirkmechanismen, die mit bewährten Erklärungsnetzen überhaupt nicht in Einklang zu bringen sind oder diesen fundamental widersprechen, je nach Zusammenhang als unplausibel bis obsolet anzusehen. Beispiele für letzteres sind Hochpotenzierung und Wasser­gedächt­nis der Homöopathielehre oder die Ablehnung von Krankheits-Erklärungen auf der Ebene von Zellmechanismen, wie sie etwa vom Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände vertre­ten wird. Wie aber sollten moderne Immunologie und Impfwissenschaft ohne Zellularpathologie aus­kom­men?

Neben naturwissenschaftlichen Kenntnissen nutzt WOM auch relevante sozialwissen­schaftliche, psychologische und psychotherapeutische Wissensbestände. Ein biologistischer Erklärungs- oder Betrach­­tungs-Reduktionis­mus, wie er WOM nicht selten vorgeworfen wird, liegt keinesfalls in der Logik von Wis­senschafts­orientierung. Auch das hat sich in der Pandemie gezeigt, während deren Fortschreiten immer mehr hilfreiche Daten etwa zu psychologischen Fragen rund um Pandemiewissen, Hygienemaßnahmen und Impfbereitschaft erhoben und eingebracht wurden.

Die zweite oben angeführte Erkenntnisstrategie ist die empirische Untersuchung von vermuteten Korrelationen zwischen Behandlungen und den erwünschten Erfolgen und unerwünschten Schadens­risiken. Zu diesem Zweck werden klinische Studien durchgeführt, die möglichst unverzerrte Daten liefern sollen, um einen Kausalzusammenhang zwischen Behandlung und Erfolg statistisch nahezu­legen. Solche Studien liefern als solche keine Hinweise darauf, wie der Kausalzusammenhang ggf. erklärt werden kann; sie dienen nur der Identifizierung von Kausalzusammenhängen und der Mes­sung ihrer Stärke. Die systematische Nutzung kontrollierter (und oft verblindeter und randomisierter) Studien, das Hauptanliegen der Evidenzbasierten Medizin (EbM), hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Sie hat in zahllosen Bereichen, z.B. als Voraussetzung für die Zulassung von Arzneimitteln und Impfstoffen, eine erhebliche Verbesserung des Behandlungs­niveaus der klinischen Medizin bewirkt – sei es durch positive oder negative Ergebnisse. Sie darf aber nicht dazu führen, statistische Korrelations-Belege ohne Bezug zu den konkreten Fragestellungen einzufordern. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist eine Stellungnahme des EbM-Netzwerks vom September 2020, in der vor der Einführung einer Maskenpflicht und des Abstandhaltens zunächst aussage­kräftige (randomisierte prospektive kontrollierte) Studien zu deren Wirksamkeit verlangt wurden. Hier legt die Alltagsvernunft nahe, in einer hochgefährlichen Pandemie unverzüglich auch auf Maßnahmen zu setzen, die sich in ähnlichen Situationen bewährt haben und plausibel scheinen.

Ein anderes Beispiel bietet diejenige Kritik an den neuen mRNA-Impfstoffen, die sich vehement gegen deren vermeintlich viel zu kurze Testphasen richtet. Dabei wird die komple­men­täre Bedeutung rele­van­ter systematisch-theoretischer Wissensbausteine vollständig ausgeblendet: Hierzu zählen im besag­ten Zusammen­hang eine Reihe generalisierbarer Kenntnisse über mRNA, Immunant­worten oder Impf-Spätfolgen sowie über die hohe Letalität und hohen Schadenspotentiale von Covid-Infektionen. Die WOM-basierten Zulassungs- und Empfehlungsvorgaben für die heute zugelassenen Covid-Impf­stof­fe haben sich auch im Nachhinein als richtig erwiesen.

3. ÖFFENTLICHE VERANTWORTUNG, PLURALISMUS UND SONDERMEINUNGEN 

Wissenschaftsorientierte Medizin verpflichtet alle an ihr Beteiligten auf eine Reihe von Werten im Um­gang mit Wissensbeständen und Behandlungsempfehlungen. Sie klingen trivial, sind aber keines­wegs selbstverständlich und umfassen Unvoreingenommenheit, Revisionsoffenheit, Wahrhaftigkeit, das Zu­rück­­stellen von Eitelkeiten und Eigeninteressen gegenüber dem Interesse am Wissenschafts­fort­schritt sowie die Bereitschaft zum kollegialen Disput. 

Als eine neuere Verantwortung von zunehmender Bedeutung hat sich in den letzten Jahrzehnten die wissenschaftliche – nicht zuletzt medizinische – Politikberatung entwickelt. Die Einschätzung der ge­sund­heitlichen Risiken von Atomkraft-Nutzung, Schweinegrippe oder Ebola sind ältere Beispiele, von der Covid-19-Pandemie allerdings in den Schatten gestellt. Nie zuvor waren Expert:innen aus Viro­logie, Epidemiologie, Intensivmedizin oder Vakzinologie, aber auch Politologie, Rechtswissen­schaften, Psychologie oder Medizinethik und -geschichte so häufig und zahlreich für Talkshows, Podcasts und politische Beratungsgremien angefragt wie seit März 2020. Dabei hat sich das Verhältnis von Wissen­schaft und Politik bei allen Höhen und Tiefen als prinzipiell fruchtbar erwiesen. Auch hier sind Lernfort­schritte zu verzeichnen, insbesondere was das Hinzuziehen der psychosozialen Fächer und der realen Praxis in die Entscheidungs­findung betrifft. Zugleich aber haben sich einige Probleme zugespitzt: 

Erstens hat die Vielstimmigkeit der Expertenmeinungen zu vielen Fragen der Pandemie-Entwicklung und der erwartbaren Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen das naive Bild wissenschaftlich homo­ge­ner Ansichten erschüttert, welches viele Bürger zuvor gehabt haben mögen. Der auf diese Weise wohl deutlicher denn je ins öffentliche Bewusstsein getretene Pluralismus der Wissenschaftler­meinun­gen hat indes zwei Seiten: Unter Wahrung der oben angedeuteten Werte ist ein solcher Pluralis­mus mit seiner Offenheit für neue Daten, neue Deutungen und neue Debatten fraglos ein Fortschrittsmotor. Wo er jedoch von Dogmatismus infiltriert ist, wissenschaftlich nicht nachvoll­zieh­­bare Erklärungs­weisen zulässt oder in prinzipiellem Widerspruch zu soliden empirischen Daten steht, trifft das Gegen­teil zu.

Zweitens wurde im Rahmen der Strategieentwicklung zur Pandemiebekämpfung in der Wahr­nehmung einer kritischen Öffentlichkeit wiederholt von Wis­sen­schaftler:innen (und auch Politi­ker:innen) der kategorische Unter­schied zwischen Tatsachenurteil­en und Bewertungen übergangen. Aus Infek­tions­raten, Todeszahlen oder prognostischen Modellierungen, so grundlegend wichtig sie für Entschei­dungs­findungen sind, folgen aber eben per se noch keine Forderungen oder poli­tischen Empfehlungen. Es müssen vielmehr Wertmaßstäbe etwa für Risikobewertungen und Ziel­vor­gaben hinzu­kom­men, die gerade nicht aus den Wissenschaften selbst kommen, sondern aus Recht, Moral und am Ende der politischen Konsensbildung. 

Drittens haben offenbar die Befürworter von sogenannter Komplementär- und Alternativmedizin (KAM) einen nennenswerten Anteil an der gerade in Deutschland so prominenten Covid-19-Skepsis. Diese Skepsis wendet sich insbesondere gegen wissenschaftlich breit konsentierte Ansichten zur Entste­hung und zur vergleichsweisen Gefährlichkeit der Covid-19-Pandemie sowie zur Vertrauens­wür­dig­keit von Aussagen zur erwartbaren Effektivität und Sicherheit der mRNA-Impfstoffe.

4. ZUR ROLLE VON SOGENANNTER KOMPLEMENTÄR- UND ALTERNATIVMEDIZIN IN DER COVID-19-PANDEMIE

Impfskepsis und Impfverweigerung stehen in einer langen Tradition wissenschaftsskeptischer oder ‑feindlicher Haltungen (Christian/2021 und Thiessen/2021: im Netz). In Deutschland findet sich Impfskepsis bis hin zu Verschwörungsmythen überhäufig bei Nutzern und Anbietern von KAM. Dieser Zusammenhang ist empirisch in jüngster Zeit durch zwei Studien belegt: Zum einen belegten Lamberty/Imhoff (2018; im Netz) diese Beziehungen schon vor der Corona-Pandemie sowohl für Deutschland als auch die USA in einer Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden. Mit einem ähnlichen Ansatz zeigten Frei/Nachtwey (2021; im Netz) für die Pandemiezeit in Baden-Württem­berg eine auffallende Neigung zu Impf­skepsis und Pandemie-Verleugnung bei Anhängern der Anthroposophie auf.  Ohne den Ein­fluss von KAM-Anhängern quanti­fizieren zu können, zeigen diese Zusammenhänge zeitaktuell, wel­che Gefahren von KAM im Sinne der Boykottierung wissenschaftlicher Denk- und Handlungsweisen ausgehen. Anekdotisches Wissen über das Anbieten alternativer Covid-Therapien, über das Schüren von Impf­-Misstrauen sowie das Anbieten von Impfstoff-Globuli gegen Corona oder von kostspieligen ‚Impfaus­­leitungen‘ aus Teilen der KAM-Szene verstärken diesen Eindruck.

Frühere Memoranden des Münsteraner Kreises zur Homöopathie und zu Heilpraktikern haben insofern an Aktualität und Bedeutung gewonnen. Es ist überfällig, dass die Gesundheitspolitik darauf reagiert, dass – wie im Detail in den Memoranden gezeigt – KAM-Verfahren in vielfältiger Weise geadelt und geschützt werden und Einzug in die gesetzliche Krankenversicherung gefunden haben. Unverständlich und scharf zu kritisieren ist auch die Tatsache, dass zahlreiche Universitäten KAM-Verfahren – oft unter der irreführenden Überschrift einer ‚Integrierten Medizin‘ – in das akademische Lehr- und Forschungsprogramm aufgenommen haben. Der Münsteraner Kreis erwartet von der Politik, dass sie sich zur Problematik von KAM-Verfahren (Homöopathie, Anthroposophische Medizin u.a.) jetzt endlich konsequent positioniert und   – wie vom MK vorgeschlagen – zudem das Berufsbild des Heilpraktikers entweder ganz abschafft oder radikal überarbeitet.

FAZIT

Wissenschaftsorientierte Medizin (WOM) ist ein weltweites Unterfangen, das auf ständige Verbes­serung ärztlichen Tuns zum Wohle der Patient:innen angelegt ist. Ohne Frage ist sie dabei schon in der Vergangenheit außerordentlich erfolgreich gewesen und hat sich in der Covid-19-Pandemie im Ganzen außerordentlich bewährt. Die maßgeblichen Instrumente von WOM sind das Bemühen um das transparente, systematische und selbstkritische Verstehen von Krankheitsmechanismen und ihren Behandlungen in Kombination mit der empirischen Überprüfung von Behandlungswirksam­keiten. Wissenschaftsorientierung lässt sich ihrer Methodik wegen we­der mit pseudomedizinischen Ansätzen vereinbaren, noch geben Wissenslücken oder Qualitäts- und Strukturmängel im medizinischen Alltag einen Anlass, die grundsätzliche Über­legen­heit von WOM gegenüber allen anderen Konzeptionen von Patienten­behandlung zu rela­tivieren.